Der „Schweinestau“: Zeit zum Umsteuern!

Weil Schlachthöfe coronabedingt schließen oder weniger schlachten, drängen sich in den Mastanlagen zu viele Schweine. Landwirt*innen und Agrarverbände fordern von Politik und Behörden unter anderem eine schnelle Erhöhung der Schlachtmengen, um diesen „Schweinestau“ aufzulösen. Dabei ist die jetzige Situation hausgemacht: Die auf Masse und Export ausgerichtete industrielle Tierproduktion kollabiert, sobald nur ein Rad im Getriebe klemmt. Deshalb fordert Animal Rights Watch e.V. (ARIWA) die politisch Verantwortlichen auf, jetzt die Notbremse zu ziehen. Dieses System, unter dem sowohl die Tiere als auch die Landwirt*innen leiden, muss durch eine zukunftsfähige Landwirtschaft ersetzt werden. Dazu brauchen wir einen Plan zur Abwicklung der Tierproduktion, wirtschaftliche Unterstützung für Betriebe, die aus der Tierhaltung aussteigen wollen, und Förderprogramme für einen veganen Ökolandbau.

5. November 2020

Jedes Jahr werden in deutschen Schlachthöfen mehr als 750 Millionen Tiere getötet, darunter circa 55 Millionen Schweine. Fast die Hälfte des deutschen Schweinefleischs wird exportiert. Die Grundlage dieser Statistik bildet das Leid vieler Millionen Tiere, die oft unter schlimmsten Bedingungen in den Anlagen der deutschen Tierindustrie leben und sterben. Am Leben gehalten wird dieses System von dem politischen Willen, auf möglichst billige und dennoch profitable Weise Tierfleisch zu „produzieren“. Direkte Folgen wie Klima-, Boden- und Grundwasserschäden, globale Umweltzerstörung und eben millionenfaches Tierleid werden dabei sehenden Auges in Kauf genommen.

Die Tötungsmaschinerie stockt

Corona bringt dieses auf Gewalt, Ausbeutung und Zerstörung beruhende System derzeit zum Stocken. Die seit Wochen und Monaten reduzierten Schlachtkapazitäten sorgen dafür, dass mehr Schweine als geplant in den Mastanlagen verbleiben. Jede Woche werden laut der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands e.V. (ISN) 100.000 Schweine „zu wenig“ getötet. Inzwischen drängen sich geschätzt mehr als 500.000 „überzählige“ Schweine in den Mastanlagen, bis Weihnachten könnten es eine Million und mehr sein.

Joachim Rukwied, der Präsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), bezeichnet diese Situation als „Schweinestau“. Ein zynischer Begriff, der zeigt, dass Schweine in den Augen der Tierindustrie allein dazu bestimmt sind, möglichst schnell und effizient durch den vorbestimmten Produktionsprozess geschleust zu werden – von der „Ferkelerzeugung“ bis zum Schlachthof. Tatsächlich betrifft der „Schweinestau“ mittlerweile auch schon die Zuchtbetriebe, die oft keine Ferkel mehr an die überfüllten Mastbetriebe verkaufen können.

Hilfe vom Staat um jeden Preis

Landwirt*innen und Agrarverbänden fällt in dieser Situation nichts weiter ein, als vom Staat Hilfen zu fordern, um die Maschinerie wieder in Gang zu bringen – koste es, was es wolle. Doch die geforderte zeitweilige Aussetzung von Schlachtobergrenzen würde Menschenleben gefährden, da Corona-Infektionen wahrscheinlicher würden. Die Forderung nach verlängerter Arbeitszeit in den Schlachthöfen würde die ohnehin prekäre Ausbeutung der Arbeiter*innen noch verstärken. Und vorübergehende Ausnahmeregeln bei den Platzvorgaben für Tiere würden den gesetzlichen Tierschutz mit Füßen treten. Dass dieser auch schon im „Normalbetrieb“ nichts zählt, zeigen zwar zahlreiche Recherche-Veröffentlichungen, die seit Jahren regelmäßig illegale Praktiken in der Tierindustrie aufdecken. Dennoch wäre eine offizielle Aussetzung der ohnehin sehr niedrigen Auflagen nichts anderes als ein Freifahrschein für Tierquälerei.

Vorsicht, wenn von „Tierwohl“ die Rede ist!

Bleibt die Situation weiter so angespannt, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Agrarverbände öffentlich über die Tötung „überzähliger“ Tiere diskutieren werden. Natürlich unter dem Vorwand, um das Wohl der Tiere besorgt zu sein: „Wir brauchen jetzt Kompromissbereitschaft, um auch Tierwohl weiter gewährleisten zu können“, ließ Bauernpräsident Joachim Rukwied bereits verlauten. Die niedersächsische Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast kündigte an: „Wir werden in den nächsten Wochen ein gravierendes Tierschutzproblem in vielen Ställen bekommen.“ Und der Lobbyverband ISN warnte, „tierhaltende Betriebe [würden] unweigerlich auf Tierschutzprobleme […] in den Ställen zulaufen.“ Äußerungen wie diese zielen im Zweifel darauf ab, das Töten gesunder Tiere aus Platzgründen legitim erscheinen zu lassen. Tatsächlich aber ist zusätzlicher Platz, ebenso wie eine längere Fütterung, vor allem eine Kostenfrage. Das machte auch Joachim Rukwied jüngst in einem Interview klar: „Bei den jetzigen Preisen schreiben die Betriebe mit jedem Schwein oder Ferkel, das sie verkaufen, rote Zahlen. So viel steht fest: Das hält man nicht lange durch.“

Einige Branchenvertreter*innen sprechen sogar bereits ganz offen davon, „gesunde Schweine zu töten und zu entsorgen, um die Schlachtkapazitäten zu verringern.“ Doch Tötungen aus rein wirtschaftlichen Gründen – ohne den vom Tierschutzgesetz geforderten „vernünftigen Grund“ – wären rechtswidrig. Trotzdem haben Behörden in der Vergangenheit vereinzelt die Tötung gesunder Tiere aus rein wirtschaftlichen Gründen geduldet. So etwa bei einem Vogelgrippe-Ausbruch 2017, als tausende gesunder Puten-Küken nur deshalb getötet wurden, weil sie nicht zu den Mastanlagen transportiert werden konnten. ARIWA hat die zuständigen Veterinärbehörden daher aufgefordert, alle betroffenen Betriebe bereits vorsorglich darüber aufzuklären, dass eine Tötung „überzähliger“ Tiere rechtswidrig ist und dass stattdessen eine tiergerechte Unterbringung, auch längerfristig, gewährleistet werden muss.

Höchste Zeit zum Umsteuern

Die jetzige Situation wird kein vorübergehendes Phänomen bleiben. Selbst Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner spricht deshalb nicht mehr nur über eine finanzielle Entschädigung für die Fleischindustrie, sondern fordert diese ausdrücklich dazu auf, weniger Tiere zu „produzieren“. Das ist ein Novum – und kann dennoch nur ein Anfang sein. Denn Corona ist nicht nur eine zufällige Ursache dafür, dass das System Tierindustrie plötzlich nicht mehr funktioniert. Corona und andere Zoonosen sind umgekehrt auch eine direkte Folge des weltweiten Tierkonsums und der damit verbundenen Zerstörung von Lebensräumen. Das macht unmissverständlich klar, dass um eine dauerhafte Strategiewende kein Weg herumführt.

Es ist nun an der Politik, entschlossen umzusteuern: Für eine zukunftsfähige Landwirtschaft brauchen wir Ausstiegsmöglichkeiten aus diesem System und finanzielle Anreize, damit sich Landwirt*innen beruflich neu orientieren können. Der bio-vegane Landbau ermöglicht die Umstellung auf eine tierleidfreie, umwelt- und klimaschonende Landwirtschaft und sollte deshalb nachhaltig gefördert werden. Nur so lässt sich das überkommene Agrarsystem beenden, das seit Jahrzehnten für systematisches Tierleid, die Befeuerung der Klimakrise, für Umweltzerstörung und Artensterben sowie für menschenverachtende Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen und Tierfabriken mit verantwortlich ist.

Stand: 11/2020 | Text: © Animal Rights Watch e.V. | Bilder: © Animal Rights Watch e.V. und tierretter.de

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