Was Reformen verraten

Wir werden oft gefragt, warum ARIWA auf reformistische Forderungen verzichtet und stattdessen versucht, die Menschen unmittelbar von der Notwendigkeit des Veganismus und eigener politischer Aktivität zu überzeugen.

Erfolglose Reformen

Forderungen nach besseren Haltungsbedingungen, humanerem Schlachten oder einem Amputationsverbot für Schnäbel und Schwänze können doch nicht verkehrt sein? Da ein Ende der Nutzung von Tieren als Nahrungsquelle derzeit nicht absehbar sei, wären doch eine Reduktion des Fleischkonsums, eine vegetarische Ernährung und eine weniger qualvolle Züchtung, Haltung und Tötung der Tiere sinnvoll – so die Überzeugung vieler Menschen und Organisationen, die sich für Verbesserungen in der Tierhaltung, also für reformistische Ansätze engagieren.

In unserem Selbstverständnis heißt es hingegen: „Die Folgen der Tierproduktion sind unverändert millionenfaches Tierleid und Tiertod, obwohl konservative Tierschutzorganisationen seit Jahrzehnten mit Nachdruck, aber auf ganzer Linie erfolglos versuchen, das bestehende System durch Verbesserungen für die Tiere zu reformieren. Solange man die Nutzung der Tiere nicht grundsätzlich infrage stellt, lassen sich Leid und Tod nicht vermeiden. Daher ist der Veganismus die logische Schlussfolgerung aus einem konsequent umgesetzten Tierschutzgedanken.” Und: „Wir verstehen uns bei dieser Aufklärungsarbeit als Informationsquelle für Interessierte, aber nicht als Missionare.” Warum sollten wir die dafür vorhandenen Ressourcen investieren, um ein System mit Tierleid zu reformieren, anstatt die gleiche Energie für die Abschaffung des tierleiderzeugenden Systems einzusetzen?

Tierausbeutung durch eigenes Verhalten teilabschaffen

Reformer*innen argumentieren an dieser Stelle, dass kleine Schritte und Reformen am bestehenden System auch – oder sogar noch besser – zum Ziel der Abschaffung jeglicher Tierausbeutung führen würden. Als Beleg werden andere Bewegungen angeführt, die ebenfalls, so die Reformer*innen, nur durch Kompromisse erfolgreich waren: etwa bei der Abschaffung der Sklaverei. Auch hier hätten nur Reformen eine Schwächung der Lobby der Sklavereiprofiteure herbeiführen können und damit das Ende der Sklaverei eingeleitet. Parlamentarische Anträge zur Abschaffung der Sklaverei seien zuvor stets abgelehnt worden.

Keine Frage: Ein parlamentarischer Antrag auf Abschaffung jeglicher Tiernutzung und zur flächendeckenden Einführung des Veganismus hätte auch heute keine Chance. Aber ist das ein valider Vergleich? Anders als im Fall der Sklavenhaltung hat jede und jeder Einzelne von uns die Möglichkeit, durch das eigene (Konsum-)Verhalten, etwa eine vegane Lebensweise, eine Teilabschaffung der Tierausbeutung herbeizuführen – und zwar ohne parlamentarische Mehrheiten. Dafür ist es allerdings unabdingbar, dass umfassend und eindeutig darüber informiert wird, was Tierhaltung und Schlachtung, auch nach den ambitioniertesten Reformen, für die Tiere unweigerlich bedeutet und dass eine vegane Lebensweise problemlos möglich ist. Den Menschen dagegen erst zu Biofleisch, dann zu Vegetarismus und irgendwann schließlich zu Veganismus zu raten bedeutet eine vorsätzliche Zurückhaltung essenzieller Informationen und führt zu Unverständnis und Demotivierung, zumindest aber zu einer Verzögerung der individuellen Entwicklung.

Keine Erfolge mit Strategie der „kleinen Schritte”

Andere Vergleiche, etwa mit der Abschaffung von Folter oder Todesstrafe, gehen ebenso ins Leere. Wie bei der Sklavenhaltung kann es Veränderungen hier nur durch gesellschaftliche oder politische Mehrheiten geben. Solche Mehrheiten entstehen aber dadurch, dass ein nennenswerter Prozentsatz der Bevölkerung, also der Wähler*innen die betreffende Entscheidung begrüßt. Das bewusste Zurückhalten der ganzen Wahrheit und das Fokussieren auf Zwischenlösungen bremst diesen Prozess. Das zeigt die Praxis deutlich, denn politische Mehrheiten für Kompromisse gibt es beim Thema Tierhaltung bereits seit acht Jahrzehnten: in Form des Tierschutzgesetzes und seiner Umsetzungsverordnungen. Hätten die Reformer*innen mit ihren Vergleichen Recht, wäre der notwendige erste Reformschritt also längst vollzogen, der ja angeblich in weiteren Schritten zur Abschaffung der Tierausbeutung führen müsste. Tatsächlich hat eine solche Entwicklung aber nie eingesetzt.

Die Strategie der „kleinen Schritte” hat im Tierschutzbereich somit nicht nur keine Erfolge vorzuweisen. Sie übersieht auch, dass gesellschaftliche Entwicklungen nicht linear verlaufen, sondern oft nach langem Vorlauf zu scheinbar „plötzlichen” Veränderungen führen. Dass heute immer mehr Menschen die Forderung nach einer konsequenten Abschaffung der Tiernutzung unterstützen, ist ein solcher Vorlauf. Dass diese Entwicklung trotz ihrer zunehmenden Dynamik nicht unmittelbar politische Folgen hat, zeugt nicht von Ineffektivität, sondern liegt in der Natur der Sache. Erst wenn die erforderlichen Mehrheiten vorhanden sind, wird die Veränderung eintreten – ohne dass dafür Zwischenschritte nötig wären. Das schnell und überraschend durchgesetzte Rauchverbot in Gaststätten und Schulen ist ein Beispiel dafür, wie sich eine solche gesellschaftliche Entwicklung vollziehen kann.

Reformen sind keine Lösung

Aber muss nicht auf dem Weg dahin versucht werden, den Tieren durch Reformen so viel Leid wie möglich zu ersparen? Reformer*innen betonen schließlich gerne, Forderungen nach „besserer Haltung” und „humanerer Schlachtung” würden die Forderung nach einer Abschaffung von Tötung, Leid und Ausbeutung nicht ausschließen, sondern sogar ergänzen. Leider trifft das jedoch nicht zu: Die Mitwirkung von Tierschutzorganisationen an politischen Reformdebatten wird von der Öffentlichkeit zwangsläufig so wahrgenommen, als sei die Reform das Ziel und als könnten Tierprodukte nach Umsetzung der Reformen wieder bedenkenlos konsumiert werden. Die Erklärung reformistisch tätiger Organisationen, dass eigentlich der Veganismus das Ziel sei, durch Reformen jedoch erst einmal unmittelbar Leid verringert werden solle, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Zudem stehen „eigentliches Ziel” und „Zwischenziel” dabei meist in grundsätzlichem Widerspruch, etwa wenn auf dem Weg zur Abschaffung der Nutztierhaltung Maßnahmen eingefordert werden, die explizit eine gegenteilige Zielsetzung haben – wie im Fall des BMEL-Gutachtens „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“.

Wenn aber auf diese Weise öffentlich der Eindruck vermittelt wird, ein Konsum von Tieren sei ohne Tierleid möglich, wird Veganismus als tatsächlicher Lösungsweg blockiert. Viele Menschen nehmen Optionen wie „Biohaltung” oder „bessere Haltungsbedingungen” liebend gerne zum Anlass, um ihren eigenen Konsum nicht hinterfragen zu müssen. Und das umso mehr, wenn diese Optionen von Tierschutzorganisationen empfohlen werden, die ja als Interessenvertretung der betroffenen Tiere betrachtet werden. Deren Versuche, auf politischem Wege Tierschutzreformen durchzusetzen, ermutigen die Menschen also gerade nicht dazu, sich mit einer veganen Lebensweise zu beschäftigen, sondern halten sie im Gegenteil davon ab.

ARIWA klärt auf und zeigt echte Alternativen

Diese Einschätzung ist das Ergebnis unserer Erfahrungen aus jahrzehntelanger Tierschutz- und Tierrechtsarbeit. Als Konsequenz daraus hat sich ARIWA für eine klare Strategie aus Aufklärung und dem Aufzeigen echter Alternativen entschieden. Wir machen für die Menschen sichtbar, was Tiernutzung konkret bedeutet und wie sie sich diesem System entziehen können – ohne Selbstbetrug und unnötige Kompromisse. Dieses Vorgehen beruht auf einem Menschenbild, das jedem und jeder Einzelnen die Fähigkeit zuschreibt, anhand sachlicher Informationen mündig zu entscheiden und auf diesem Weg zu einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft beizutragen.

Wir sind davon überzeugt, dass dieses Vorgehen sowohl ethisch geboten als auch effektiv ist. Und da sich, wie oben aufgezeigt, die beiden Grundansätze – mit vs. ohne Reformen – eben nicht ergänzen, sondern widersprechen, distanzieren wir uns, ebenso wie weite Teile der Tierrechtsbewegung, klar von reformistischen Aktivitäten.

Verrat an den Tieren

Das bedeutet aber nicht, dass wir andere Meinungen dazu nicht akzeptieren. Es gibt durchaus ehrlich gemeinte Bemühungen, die Veganismus und die Abschaffung jeglicher Tierausbeutung zum Ziel haben und trotzdem reformistisch agieren. Für uns sind Menschen, die einen solchen Ansatz vertreten, keine Gegner oder „Aktiven zweiter Klasse”, sondern potenzielle Verbündete, mit denen von Fall zu Fall gemeinsame, nichtreformistische Aktivitäten durchgeführt werden können.

Der Einsatz für Reformen verrät nicht zwangsläufig die Interessen der Tiere. Er verrät nach unserer Beobachtung aber, dass hinter der Strategie ein anderes Menschenbild steht: eines, das weniger auf Aufklärung und mündige Entscheidung setzt als auf Simplifizierung und Anleitung. Eines, das den Menschen weniger zutraut und sie deshalb im schlechtesten Fall effektiv zu manipulieren anstatt zu überzeugen versucht. Verrat an den Tieren kommt freilich dann hinzu, wenn reformistische Ansätze als „notwendiger Kompromiss” ausgegeben werden, tatsächlich aber dazu dienen, den eigenen Konsum tierlicher Produkte zu legitimieren oder unvegan lebende Unterstützer*innen nicht zu verprellen. Das Ziel solcher Reformen kann nie eine Befreiung der Tiere sein.

Hinweis: Alle Bilder zu diesem Artikel stammen aus Betrieben mit „besseren” Haltungsformen.

Text: © Animal Rights Watch e.V. | Bilder: © Animal Rights Watch e.V.

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